Stil und virtuelles Ich

Me
me.style Berlin

Eine typische Szene in einer Berliner S-Bahn: Ein Mann mit langem, ungekämmtem Haar steigt ein, In der Hand hat er eine Plastiktüte, über dem zu großen Norwegerpulli trägt er eine abgewetzte Lederjacke, dazu eine ausgewaschene Jeans und ausgelatschte Turnschuhe. Mit einem Blick erkennt man ihn: den Flaschensammler.
Das selbe Outfit jedoch, lediglich die Jeans skinny und die Tüte aus Baumwolle, an einem jungen Menschen, und schon hat man einen „Hipster“. Wieso gibt es diese erkennbare Uniform verschiedener sozialer Gruppen? Was bedeutet Stil, und wie findet man ihn?

Laut einem Artikel der Psychologie Heute von 2001 ist Stil „die den ganzen Menschen umfassende Form des Selbstausdrucks (…) die Summe von Sprechweise, Auftreten, Umgangsformen, von Kleidung und Accessoires, aber auch von Geschmacksvorlieben und Konsumgewohnheiten.
Der Stil eines Menschen ist das Destillat seiner sichtbaren Lebensführung“. Dazu gehören Punkte wie Wohnen, Arbeit, Technologie, Freizeit, Fahrzeug und Mode.
Oder auch nirgends wohnen und Flaschen sammeln – keinen eigenen Stil zu haben ist unmöglich.

Auf der Suche nach dem eigenen Stil durchlaufen Menschen fünf Phasen:
Zuerst die grundlegende Phase, (0-10 Jahre) darauf folgt die Phase der Umorientierung (10-Teens), in der Freunde und Klassenkameraden, die „peer group“ als Orientierungspunkte zunehmend wichtiger werden.
Der Phase der Individualisiserung (Teen- bis frühe Twenzeit) und Rebellion folgt die expressive Phase (Anfang bis Ende 20) in der Stilelemente aussortiert werden und andere zum eigenen Stil verfestigt werden.
Schließlich, Ende 20 bis Mitte 30 findet die Etablierungsphase statt: Rückzug ins Private, Fokussierung auf Beruf und Abgrenzung von Jugendkulturen.

Stilentwicklung
Entwicklung des persönlichen Stils – Quelle: Psychologie Heute

Nun ist mit der digitalisierten Welt und ihrer Angebotsfülle, die Suche nach dem eigenen Stil zu einer noch verwirrenderen, ja multiplizierten, Odyssee geworden. Netzwerke, Modeblogs werden zu Chronisten einer -oder mehrerer- Generationen auf der Suche nach sich selbst.

Vielleicht versteckt sich hinter dem Erfolg von Tavi gerade das Phänomen, dass sie als junger Teenager mit einer besonderen Intensität von der erwähnten Umbruchzeit zwischen Umorientierung und Individualisierung berichten kann, und damit eine Ausnahme unter den Mittzwanzigern darstellt, während Altblogger wie Garance Dor© und der Sartorialist gemeinsam „angekommen“, „etabliert“, sind. Für jede Phase stehen digitale Vorbilder bereit, die Suchenden abzuholen und mitzunehmen auf die Suche nach dem Stil.

Tavi
Tavi Gevinson – Stylerookie

Die digitale Generation zelebriert sich und ihren Stil, lässt andere teilhaben, bewerten und abschauen. Minütlich checkt man Facebook, in der Hoffnung auf „likes“ oder einen positiven Kommentar zu Fotoalben oder Status-Updates. Blogs wie Stil in Berlin sind die neuen Richter, was abfotografiert wird hat Stil, wird nachgemacht und wieder fotografiert. Das System erhält sich selbst.
Der (Netz-)Narzissmus kennt keine Grenzen.

Die öffentlich beobachtbare Entwicklung und die Selbstbeobachtung des Systems kreieren einen kodifizierten Stil, eine soziale Uniform. Der digitale Raum birgt für die Stilfindung in all ihren Phasen eine Fülle an Inspiration, Einkaufsmöglichkeiten und Vorbildern; und schaltet dennoch gleich.
Zusätzlich schafft der virtuelle Raum eine verbesserte Version des Individuums. Das digitale Ich ist ein geschöntes Abbild des realen Ichs; nur die schönsten Fotografien, nur die -auch patzig- ausformulierten Gedanken, nur die mühevoll zusammengestellten Outfits, nur die ausgewählten eingefangenen magischen Momente formen es.
So wird der Blogger, ja bereits das Netzwerkprofil, zu einem stilisierten Gebilde, zum digitalen Tempel des Egos.
Dies erfordert jedoch minutiöse Pflege und, um interessant zu bleiben, ein Tempo, das dem Tempo des Informationsoverloads entspricht.
Die Welt ist keine Bühne mehr, die Bretter wurden ins Netz verlegt – in der Realität wird nur noch der Nachschub gecastet.