Sind Illustratoren die heimliche Kunst-Avantgarde?

Möglicherweise, sagt Pascal Johanssen, Initiator des Kunstfestivals Illustrative

Im Ernst: Im Bereich der (guten) Illustration entstehen wirklich progressive visuelle Formen, und wenn Illustratoren über etwas mehr Sendungsbewußtsein verfügen würden, inhaltlich wie persönlich, würde das auch einmal jemand merken.
Aber Illustratoren sind eher unauffällig. Sie sitzen hinter ihrem Zeichentisch, reden nicht viel und schalten abends das Licht aus. Das ist ihr Problem. Noch hat sich aus dem Kreis der Illustratoren kein neuer Andy Warhol herausgemendelt.
Aber das wird noch kommen, es ist nur eine Frage der Zeit.

Illustration als neue Pop-Art?
Mit welchem Maß soll man den jüngsten Aufschwung der Illustration messen? Mit den Maßstäben des Kunstmarktes oder mit den Parametern aus Design und angewandter Kunst?
Als Ausstellungsmacher haben wir die Entwicklung der Illustration in den letzten Jahren ganz gut mitverfolgen können. Die Idee hinter der Illustrative, dem Kunstfestival, das wir seit 2006 veranstalten, ist es, die freien, experimentellen Arbeiten von Illustratoren zu zeigen – also Kunst von Designern, deren künstlerische Ergebnisse normalerweise nicht in Ausstellungen zu finden sind.
Die Illustrative ist die jährliche Plattform für diese Art von Kunst. Die Veranstaltung selbst ist im Grunde eine zweiwöchige Mischung aus Ausstellung, Forum und Festival.
Die Qualität dieser „vergessenen Kunst“, die auf der Illustrative gezeigt wird, hat viele Besucher in den ersten Jahren überrascht. Mittlerweile zeigt sich, dass in der letzten Zeit längst eine Strömung entstanden ist – wir nennen sie „illustrative Kunst“ – die sich von der klassischen Illustration emanzipiert hat.
Entstanden ist jedenfalls eine eigenständige und handwerklich-zeichnerisch geprägte Kunstrichtung, die sich nicht nur in Bildern äußert, sondern in vielen Facetten manifestiert – über die Grenzen der Disziplinen des Kunsthandwerks und der bildenden Kunst hinweg.
Die Tendenzen sind nicht zu übersehen: Weg von der Figürlichkeit, hin zur spielerischen Abstraktion. Gerade die Illustration, die von der figürlichen Zeichnung geprägt ist, entdeckt viele neue Ausdrucksweisen, in denen sich klassische künstlerische Strategien mit aktuellen Einflüssen aus dem jeweiligen Genrehintergrund des Illustrators (Mode, Comic, Musik etc.) mischen. Es gibt dabei mittlerweile genauso viele Künstler, die digital arbeiten wie analog oder beides intelligent vermischen. Der Zeichner Tim Dinter zum Beispiel skizziert seine „Stadtansichten“ analog auf Papier, scannt dann die Zeichnung ein und schiebt in Photoshop stundenlang die Layer und die Kolorierung eines Bildes hin und her bis alles perfekt ist. Danach wird entweder analog gesiebdruckt oder wieder gezeichnet, diesmal nach der digitalen Vorlage. Ist das jetzt analog oder digital produziert? Ich weiß es nicht. Aber es ist spannend, weil eine neue Ästhetik entsteht.

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Tim Dinter

Illustrationen und grafische Kunst fanden in Europa damals (und eigentlich bis heute) außerhalb des Kunstbetriebes statt. Es gab lediglich ein paar Versuche, Exemplare guten Designs in Ausstellungsräume zu stellen, später hat das die Design Miami zusammengefasst. Aber während Design dort als poppige Variante der Art Basel gefeiert wird, gibt es noch ein bisschen mehr: nämlich die Bewegung einer aktualisierten Form des Kunsthandwerks, das man eigentlich so nicht mehr bezeichnen möchte, da zu viel Gestriges mitschwingt. Vielleicht Neocraft?

Kunst und Handwerk: Neocraft
Auch Illustration wird man eher gerecht, wenn man sie mit den Maßstäben der angewandten Kunst – einer aktualisierten Form – misst und nicht mit den Bewertungsrichtlinien der freien zeitgenössischen Kunst. Zwischen den kulturellen Feldern Design, angewandter Kunst und freier Kunst ist in den letzten Jahren viel passiert und die Renaissance der Illustration ist nur vor diesem Hintergrund zu verstehen. Hier hat sich eine wahre Hybridkultur entwickelt, die die ihre Einflüsse aus allen drei Feldern speist.
In den letzten Jahrzehnten fehlte der Austausch zwischen den gestaltenden Eliten unterschiedlicher Disziplinen, was nicht folgenlos blieb. Das klassische Kunsthandwerk schlief nach und nach ein und wurde unspektakulär, weil es sich keine Inspirationen aus der Kunst mehr zu holen vermochte. Die innere Erneuerung blieb aus. Auf der anderen Seite verloren die freien Künstler, die als Konzeptkünstler oder Installationskünstler auf Handwerker angewiesen waren, weil sie ihre Entwürfe selbst nicht realisieren konnten, völlig den Bezug zum Material, zur technischen Fertigkeit und letzten Endes auch zur Sinnlichkeit.
Das „Schöpferische“, der fließende und einmalige Charakter des Gestaltens, wurde in der zeitgenössischen Kunst zugunsten der „guten Idee“ aufgegeben. Heute merken viele, dass die „gute Idee“ allein nicht mehr trägt. Die riesenhaften spektakulären Kunstwerke vieler zeitgenössischer Künstler, die auch dem Brainstorming einer Agentur entstammen könnten, verlieren nach wenigen Minuten ihren Reiz. In der illustrativen Kunst wird die Sinnlichkeit wieder entdeckt.

Fashion und Illustration: Endlich Glamour!

Modeillustration ist ein wichtiger Teil dieses Phänomens. Unter den verschiedenen Teilbereichen der Illustration ist sie (neben der Illustration für die Musikszene) wahrscheinlich die künstlerisch innovativste Kraft. Zum einen ist da die Illustration als tatsächliche Modeillustration – die Skizze als Entwurfshandlung. Wichtiger sind die Einflüsse der Grafik in der Mode selbst.
Vor allem skandinavische Künstler wie Antti Uotila, Siggi Eggertson oder Jesse Auersalo stehen heute stellvertretend für eine junge Garde an Illustratoren-Künstler, die an der Schnittstelle Fashion und Illustration stilbildend wirken.

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Antti Uotila

Stilbildend im besten Sinne: als Schöpfer einer neuen Formensprache, die (im Gegensatz zur Buchillustration beispielsweise) vor allem „trendy“ ist und daher aber auch ihr künstlerisch-progressives Potential bezieht. Das, was der Illustration in den letzten Jahrzehnten fehlte – Glamour – bringt sie in das Kunsthandwerk zurück.


Pascal Johanssen / Illustrative im modabot Interview 2007

Grafisch beeinflusste Textilkunst gehörte schon immer in den Bereich der angewandten Künste und stand in einem permanenten Austausch mit der Grafik. Liturgische Gewänder oder Gobelins finden sich selbstverständlich in den Kunstmuseen der ganzen Welt und zeigen auf ihren Oberflächen grafische Muster und – Illustration. Später, im Bauhaus etwa, hatten die Farbenlehre oder die Experimente der Grafikwerkstatt auch direkten Einfluss auf die Produktionen der Webereiwerkstatt, zum Beispiel bei den grafischen Jacquard-Behängen der Gunta Stölzl, die wir heute als typische Bauhaus-Textilien kennen. Die formale Dekonstruktion fand zunächst in der Grafik statt, die Übertragung ins Textil in der Textilwerkstatt (derartige Retro-Einflüsse sieht man heute etwa bei den Berliner Fashion Designern von c.neeon).

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c.neeon Präsentation Paris / Photo: Rachel de Joode

Erst seit der Nachkriegszeit ist diese Wechselbeziehung aus dem Blick geraten. Nachdem der Begriff Illustration seit Jahrzehnten eigentlich nur noch mit dem Bebildern von Kinderbüchern und Magazinen verbunden wurde, dämmert es manchem, dass hier etwas ganz anderes im Gange ist: die Illustration hat sich aus der Rolle des kreativen Hilfshandwerkes für Publikationen emanzipiert.
Sie ist zur gestalterischen Leitdisziplin geworden, die Impulse in unterschiedlichste Richtungen aussendet: in Richtung Werbung, Textilkunst und Mode, Keramik, Wandmalerei (Tapeten) oder Concept Art (was damals Kulissenmalerei für Oper und Theater war und heute das Set Design für Computerspiele ist) und nicht zuletzt – freie Kunst.
Die Illustration sendet Signale aus.

Zum Thema
Buch: “100 Years of Fashion Illustration