Die Wurzeln der Street Style Photography

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Diane Arbus, Katja Hentschel

Wenn wir heute i-D, Vice, den Sartorialist, StilinBerlin oder Glamcanyon „lesen“, dann geht es uns darum, den Zeitgeist und die Mode der sogenannten „opinion leader“ zu sehen, uns inspirieren zu lassen und gegebenenfalls das, was uns gefällt, nachzuahmen.
Zumindest sind das die vordergründigen Intentionen. Wenn man die moderne Straßenfotografie genauer unter die Lupe nimmt, dann geht es aber auch um ganz andere, viel tiefer sitzende Bedürfnisse des Menschen: Voyeurismus und Selbstbestätigung.
Auch wenn man denkt, sie sei ein recht neues Phänomen, so steht Street Photography doch in einer langen Tradition von Wegbereitern, die den Stein ins Rollen brachten, noch bevor Modemagazine und Blogger sie für sich entdeckten.
Dokumentarfotografie hat seit ihrer Entstehung die verschiedensten Zwecke erfüllt.
Als Jacob Riis beispielsweise in den 1890ern die Mißstände der in New York lebenden Arbeiterbevölkerung in dem Bildband „How the Other Half Lives“ dokumentierte, ging es um Sozialkritik. Um ein Land, in den Reiche immer reicher wurden (die Zeit war jene der großen Trusts, der Industrialisierung und der Rockefellers) und Arme immer ärmer.
Dorothea Lange fotografierte in den 1930ern die verarmte Landbevölkerung der USA, Hilfsarbeiter, die in Zelten lebten, von der Hand in den Mund. Und zeigte deren verborgene Schönheit, aber auch ihr Leid und ihre Hoffnung. Sie zeigte Emotionen, das Verborgene, das was unter der Oberfläche liegt.

Diane Arbus schließlich begann, „Freaks“ zu fotografieren. Menschen, die am Rande der Gesellschaft lebten, so weit abseits von „normal“, dass sie den Betrachter gleichzeitig faszinieren wie abstossen: Riesen und Zwerge, Hermaphroditen, Transvestiten, Prostituierte, Kranke und Alte, seltsame Launen der Natur. Der Mensch in seiner Bestimmtheit, in seinem täglichen Kampf mit sich selbst und der Umwelt.

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Diane Arbus

Die moderne „Street (Fashion) Photography“, wie sie in Blogs zu finden ist, in Magazinen wie i-D und Vice, greift genau dieses Schema wieder auf: Menschen, die sich -allerdings bewusst- dem Mainstream entziehen, die ungewöhnliche Kleidung tragen oder gewöhnliche Kleidung ungewöhnlich kombinieren. Und genau deshalb zu „Freaks“ werden – sich von der Masse abheben, den Betrachter abstoßen oder anziehen, aber immer unkonventionell und unkonform genug sind, visuell in einem der oben genannten Medien Erwähnung zu finden.
Auch mit der Idee von Schönheit und ihrer Wandelbarkeit wird gespielt. Der Heroin-chic der 90er oder das Wiederaufleben der 80er Jahre-looks zeigen, wie sich vermeintlich Hässliches in Schönes verwandeln lässt. Die Bilder auf Street Style Blogs zeigen häufig die Transformation von Etwas, das für unschön gehalten wird, in eine neue Ästhetik. Unerwartete Schönheit – das ist der Überraschungseffekt dieser Bilder.

Street Photography ist eine legitime Spielart der Dokumentarfotografie. Sie hält fest, was in den Nullerjahren und danach die Gesellschaft beeinflusst hat. Sie hält fest, was ausgefallen ist und definiert somit gleichzeitig die gesellschaftlichen Normen dieser Zeit, in der Individualismus als Tugend gilt.
Diese Begeisterung für das Individuelle ist auch Gesellschaftskritik: ein Aufbegehren gegen eine uniforme Welt und modische Gleichschaltung durch globale Modeketten wie H&M oder American Apparel – und doch oft zum Ausdruck gebracht mit deren Hilfe.
Das Internet schafft nun durch seine allgegenwärtige Präsenz etwas Interessantes: dass nicht nur Mode, sondern auch Anti-Mode global konvergieren.

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