Schöne neue Medienwelt – wie das Internet das Modeuniversum verändert

person of the year

Im Dezember 2006 ernannte das TIME Magazine erneut die „Person of the Year“, eine Tradition, die es 1927 mit Charles Lindbergh begonnen hatte. Bis auf wenige Ausnahmen wurde jedes Jahr eine Persönlichkeit des öffentlichen Lebens ausgesucht, die „zum Guten oder zum Schlechten“ die Ereignisse im entsprechenden Jahr erheblich beeinflusst hatte. Diesmal jedoch wählte TIME eine Person, mit der wohl keiner gerechnet hatte: You.

Wie kam es dazu? Es begann alles mit dem Internet, einer Kombination aus akademischem und militärischem Projekt, das in den USA entwickelt wurde um Informationsaustausch zu erleichtern.
Sukzessive wurde das Netz für die Öffentlichkeit geöffnet, die es in einem unerwartet hohen Maße genutzt hat.
Je mehr optische Erleichterungen wie z.B. der Browser (Navigator, Explorer) entwickelt wurden, desto mehr Menschen begannen das Internet zu nutzen, um Information zu produzieren und zu konsumieren.
Die fortschreitende Vernetzung der Welt ging einher mit einem rapiden Absinken der Preise für elektronische Geräte wie Digitalkameras usw., die es nun ermöglichten, neben Text auch Bild oder Video günstig zu produzieren.

Diese Kombination hat eine Situation geschaffen, in der jeder ein Erzeuger von Inhalten werden kann. Nun ist es nicht so, dass alle diese Möglichkeit wahrnehmen, aber allein die unüberschaubare Anzahl von privaten, öffentlichen und kommerziellen Webseiten beweist, dass viele genau dies tun.

Mit der Entscheidung der TIME für „Du“ wurde die Tatsache gewürdigt, dass Individuen einen Zuwachs an potentiellem Einfluss erhalten, der wahrhaft dramatisch ist. Ganz besonders wichtig dabei ist aber auch, dass das Zusammenwirken der User eine neue Qualität in die menschlichen Angelegenheiten gebracht hat.
Es entsteht durch die Foren, Blogs, YouTubes und MySpaces dieser Welt ein kollektiver Prozess, dessen Konsequenzen wahrscheinlich sogar den Gutenbergschen Buchdruck sowie Fernsehen und Radio in des Schatten stellen werden.
Dieses Phänomen der „nutzergenerierten Inhalte“ und deren allgemeine Verfügbarmachung stellt alle heutigen Paradigmen des menschlichen Zusammenlebens in Frage, ein neues Spiel beginnt.
Das gebräuchliche Wort für diese neue Phase in der Entwicklung des Internet ist „Web 2.0″, so wie „Fashion 2.0 “ die konkreten daraus entstehenden Entwicklungen im Bereich der Mode bezeichnet.

Im Jahre 2004 machte Mathias Müller von Blumencron, der Chefredakteur von Spiegel Online in einem Interview den Fehler, zu behaupten, dass „99 Prozent der Blogs“ „Müll“ seien. Abgesehen von der Tatsache, dass bei mehreren Hundert (Korrektur: ca. hundert) Millionen angemeldeten Blogs weltweit rein rechnerisch mehrere Millionen Blogs akzeptabel oder sogar gut sein müssten, schien sein konfrontativer und leicht oberlehrerhafter Ton darauf hinzudeuten, dass Blogs, die beispielsweise in den USA immer mehr an Bedeutung gewannen, eine Quelle der Sorge für die etablierten Medien bedeuten.

Und in der Tat erschien im Wall Street Journal im September 2006 der Artikel „Bloggers get under the tent“, der beschrieb, wie immer mehr Blogs, in diesem Fall Modeblogs, Eintritt zu wichtigen Modenschauen erhalten. Zwar darf nicht jeder Blogger hinein, viele haben aber eine Relevanz erreicht, die sie für die PR-Abteilungen der Modehäuser interessant macht.
So berichtete auch die französische Vogue über einige wichtige Modeblogs, die sich, obwohl sie meist nur von einer Person betrieben werden, langsam aber sicher bei ihrem Publikum zu Meinungsführern entwickeln.

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„Blogs de Mode“ der Vogue Frankreich

Obwohl es in Deutschland nur einige wenige Blogs gibt, die sich (unter anderem) der Mode annehmen, ist die Zahl der englischsprachigen Seiten überwältigend und qualitativ beeindruckend.
Beispiele dafür sind Diane Pernet ́s A Shaded View on Fashion, The Sartorialist , das vom Autor fotografierte „straight ups“ veröffentlicht, oder das von einer Engländerin betriebene Style Bubble. In Frankreich tut sich Le Modalogue hervor.

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A Shaded View on Fashion

Es ist offensichtlich, die neuen Medien entzaubern zu einem gewissen Teil den Mainstream-Journalismus, indem sie häufig besser und schneller sind als dieser, so dass sich die Frage aufdrängt, was genau denn das Besondere an klassischen Medien sein soll, wenn Kritiken, Meinungen/Kommentare, aber auch blogübergreifende Diskussionen so viel besser durch kleine -noch- nicht „korrumpierte“ Webseiten geleistet werden können.

Derzeit ist die Antwort auf diese Frage, dass klassische Medienprodukte Werbeeinnahmen erzielen, und -nicht zu vergessen- mehr Wert auf umfangreichere Recherche legen, wobei das erstere das letztere bedingt.
Diese Aspekte haben zur Folge, dass die „Dinosaurier“ ihre Bedeutung so schnell nicht einbüssen werden, ganz besonders, da sie in der vergangenen Zeit Lernfähigkeit bewiesen haben.
Hervorragend lassen sich die derzeitigen Verhältnisse an einem Videointerview (Link zum Video hier) illustrieren, das die Bloggerin Julie Fredrickson mit der legendären Anna Wintour, „Editor in Chief“ der Vogue USA führte. In diesem historischen Zeitdokument aus dem Jahre 2006 spiegelt sich die jeweilige Position in der Hackordnung des Modejournalismus wider: auf der einen Seite die junge Bloggerin, die nun schon Entr©e geniesst, und auf der anderen Seite die Modepäpstin, die mit einem gelangweilten Seitenblick das Interview abbrechen lässt.

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Julie Fredrickson im Gespräch mit Anna Wintour

Trotz alledem: die eifersüchtig aufrechterhaltenen Grenzen des Journalismus verwischen immer mehr, ebenso wie neue Webseiten die Art wie wir Information produzieren und konsumieren, hinterfragen. MySpace und YouTube, oder im Modebereich ShareYourLook oder IQONS sind Beispiele, die im vergangenen Jahr gezeigt haben, dass immer mehr Menschen sich (inter)aktiv am Prozess der Kommunikation beteiligen.

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IQONS – das „MySpace der Mode“

Webseiten wie Flickr oder Slide ermöglichen das Veröffentlichen von Fotos, die im Internet in den verschiedensten Zusammenhängen genutzt werden können, so dass eine Ausstellung des Lausanner Mus©e de l’Elys©e zu Recht behaupten kann: We are all Photographers now!

Diese neuen Mittel geben Modekreativen heute die Möglichkeit, sich auf Arten zu präsentieren, die vor kurzem nicht denkbar waren. Während beispielsweise unbekannte Designer in der Vergangenheit auf eine Veröffentlichung in einem Modemagazin hofften oder auf Werbung angewiesen waren, können sie heute mit ihren Käufern direkt in Kontakt treten. Sobald jedoch die Information veröffentlicht ist, nimmt sich das Internet ihrer an, Kollektionen können gefeiert oder kritisiert werden, jeder kann sich am Prozess des Lobes oder des Verrisses beteiligen.

Aber nicht nur das Marketing bzw. die Werbung sind diesen Veränderungen unterworfen, auch der Prozess des Verkaufs nimmt neue Formen an. Der klassische Modeeinkauf wird sicherlich so schnell nicht von der Bildfläche verschwinden, da Mode auch besehen und befühlt werden muss, aber der Komfort und die Auswahl beim Einkauf im Internet ist unschlagbar, und je besser die Methoden der Produktbeschreibung werden, desto mehr Kunden finden sich.
Daneben entwickelt sich jedoch eine zusätzliche Art des Internet-Shopping, die das Potential hat, den Einkauf zu revolutionieren.
Das sogenannte „Social Shopping“ erleichtert Empfehlungen für Freunde, Bekannte und andere Interessierte, es kann aber noch einen Schritt weiter gehen: jeder kann Kleidung produzieren und sie anbieten, Kleiderbestellungen können sogar von Tausenden von Kunden durchgeführt werden, und bei ausreichender Stückzahl werden sie produziert, ein Phänomen, das dazu führen könnte, dass bei kleineren Designhäusern eventuell das Konzept der saisonalen „Kollektion“ verschwindet.
Für diese neuen Shops stehen Firmen wie Etsy, Spreadshirt, oder das österreichische HOKOHOKO.
Und wer kein Talent oder keine Lust auf echte Kleiderproduktion hat, kann virtuelle Mode verkaufen.

Das wichtigste Paradigma aber, das durch das Internet konstituiert wird, bleibt das „anything, anywhere, anytime“. Alles ist zu jeder Zeit verfügbar, es gibt keine Grenzen des Informations- und Warenaustauschs, und damit wird ein neues Kapitel der menschlichen Geschichte aufgeschlagen. Jeder tritt mit jedem in Wettbewerb, kann mit jedem kooperieren, muss sich den Blicken aller stellen, und auch wenn man Ruhm erlangt, sind es unter Umständen nur die Warholschen 15 Minuten, bis das nächste Talent an der Reihe ist.
Diese Vision der Globalisierung, die -obwohl politisch gewollt- nur die wertfreie Konsequenz der technologischen Entwicklungen ist, hat Auswirkungen, die -so sehr man es auch versucht- für das „You“, aber auch für das „Us“ noch nicht abzuschätzen sind.

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