Vor einigen Wochen erschütterte ein Erdbeben die Modewelt: Marc Jacobs verkündete, er werde Louis Vuitton verlassen um sich seinem eigenen Label zu widmen. Nicht alle erinnern sich wohl an die Zeit vor ihm, als Louis Vuitton „nur“ ein luxuriöses Pariser Accessoirelabel war, noch dazu eines der ältesten in der Welt. Heute ist es eines der wichtigsten Modehäuser, ein Name, den Marc Jacobs mit der vor 16 Jahren ins Leben gerufenen Ready-to-Wear Kollektion aufgebaut und gestärkt hat, indem er seinen eigenen Stil mit dem reichen Erbe des Hauses zusammenbrachte und dieses so erneuerte. Er erkundete über die Jahre das Klischee der Pariserin, frischte es auf, zerriss es, zerstörte es, aber immer mit Eleganz. Mit ihm reisten wir durch viele Zeiten und Stile, von den 20ern bis in die 90er, von Grunge bis Bondage.
Und reisen liegt natürlich in der DNA von Louis Vuitton: Züge und exzentrische Hotels waren die Eindrücke, die uns Marc Jacobs während seiner fantasievollen Shows zeigte, die wir nicht zu vergessen bereit sind. Seine letzte Kollektion für LV war sein Meisterstück, das Eindrucksvollste, was er in seiner 16-jährigen Louis Vuitton Karriere präsentierte; ein Abschied voller Referenzen an seine früheren Kollektionen, und an einen der größten Designer des zwanzigsten bzw. einundzwanzigsten Jahrhunderts. Doch natürlich ist diese Abschiedskollektion nicht das Ende, weder für Jacobs, noch für Vuitton. Ganz im Gegenteil: ein kreativer Führungswechsel an der Spitze des Hauses ist bereits gesichert.
Von vielen als eines der größten Genies der Mode der vergangenen Dekade gefeiert, st Nicolas Ghesquière vermutlich die beste Wahl, die man im Hause Louis Vuitton treffen konnte. Warum? Vielleicht, weil Ghesquière, wie Jacobs, einem alten Traditionshaus neues Leben einhauchte – in seinem Falle Balenciaga. Fast genauso lange wie Jacobs, nämlich 15 Jahre, leitete er dort die kreativen Geschicke des Hauses und schuf einen distintiktiven Stil für das Label, der sich aus der Vergangenheit speiste, aber seinen Blick in die Zukunft richtete. Bekannt für seine futuristischen Muster und minimalistische Silhouetten, schaffte er es nicht nur, den Geist von Cristobal Balenciaga am Leben zu erhalten, er arbeitete auch mit der Zukunft.
Der Zukunft von was?
Von allem! Von Frauen, Stoffen, Mustern, Formen. Ob man seine Arbeit mag oder nicht, ist sicherlich Geschmackssache, doch was er schuf, war neu und visionär.
Die Tatsache, dass er Franzose ist, macht einen gewaltigen Unterschied. Jacobs arbeitete sehr erfolgreich mit dem Klischee der französischen Frau, der Pariserin. Das ging, weil er einen amerikanischen Blickwinkel hatte. Ghesquière wird das definitiv nicht auf dieselbe Weise fortführen. Eben weil er Franzose ist, wird er sich nicht von dem leiten lassen, was zuvor in Paris getan wurde. Ich muss sagen, nicht viele französische Designer sind übrig an der Spitze der französischen Häuser, und dort jemanden zu haben, der nicht in der Vergangenheit schwelgt, ist eine echte Rarität geworden.
Deshalb glaube ich, dass Louis Vuitton eine hervorragende Wahl getroffen hat. Die Kombination aus einem Haus, das über keine Codes verfügt (abgesehen von dem überanspruchten Monogrammmuster) welches offen ist für eine Neuinterpretation, und einem Mann, der in der Zukunft denkt, nicht im Gestern, könnte eine explosive und erfrischende Mischung ergeben.
Zwei Fragen bleiben letztlich offen: wird Ghesquière in Sachen Taschen in Marc Jacobs Fußstapfen treten können (die umsatzstärkste Sparte des Labels)? Jacobs ließ sich in Sachen Kleidung von der Vergangenheit inspirieren, nicht aber wenn es um die Taschen ging. In diesem Bereich entwickelte er viele künstlerische und zeitgenössische Kollaborationen, die Louis Vuitton fest ganz oben am Luxury-Bags-Markt etablierten.
Und zweitens: wird Louis Vuitton Ghesquière genug Freiraum lassen, wirklich kreativ zu sein?
Ich hoffe es. Mein größter Wunsch für diese Zusammenarbeit ist es, dass Ghesquière die schlafende Schönheit namens französische Mode wiedererweckt. Und mit Louis Vuitton an seiner Seite ist er dazu machtvoll genug.
Text: Florian Lemaire, Übersetzung: Barbara Russ